Fünf Zentimeter. So dünn ist die Linie zwischen Held und Volldepp. Mit seinem gelochten Putt aus zwei Metern hat sich Martin Kaymer am gestrigen Sonntag unsterblich gemacht. Durch sein Par an der 18 des Medinah Country Clubs ist der Deutsche in den Pantheon der Golfgrößen aufgestiegen, die ihrem Kontinent den Ryder Cup beschert haben – so wie Graeme McDowell vor zwei Jahren in Wales. Der Leidtragende war Steve Stricker, der mit seinem verlorenen Einzel bei vier Starts nicht einen einzigen Punkt holte und von den amerikanischen Medien dafür als Vollversager gelyncht wird. Das Bizarre an der ganzen Situation ist: genau das hätte auch Martin Kaymer passieren können.
Hätte Nicolas Colsaerts den Putt von Kaymer gehabt und verschoben: niemand hätte ihm dafür den Kopf abgerissen. Genausowenig Ian Poulter, der das europäische Comeback mit seiner Energieleistung im Vierer am Samstag erst möglich gemacht hatte. Doch für Kaymer war es eine Situation, die ihn für alle Ewigkeit mit einer nicht heilenden Narbe hätte zurücklassen können. Er, den niemand im Ryder-Cup-Team dabei haben wollte. Er, der im Vierer am Freitag kein einziges Birdie erzielt hatte. Er, der von Olazábal auf die Reservebank verbannt wurde. Ausgerechnet er hatte jetzt einen Putt wie Bernhard Langer beim Ryder Cup 1991, der dem Anhausener auch 20 Jahre später noch Albträume beschert.
Doch in gewisser Weise war es der Perfect Storm für Kaymer. Es war zwar ein unfassbarer Druck, der auf dem 27-Jährigen lastete, aber an schwachen Nerven hat er noch nie gelitten. Und wenn sich Kaymer einen Schlag hätte aussuchen dürfen, um Geschichte zu schreiben, hätte er vermutlich diesen Putt einem Drive auf der 18 (den er verzog) oder einen Eisenschlag über Wasser (den er auf der 13 versenkte) ausgesucht. Denn putten konnte er schon immer und mit diesem nur aufgrund der Situation schwierigen Putt konnte er alles vergessen machen was in den Tagen – oder sogar in den Monaten – zuvor passiert ist. Und mit dem Selbstbewusstsein dieser Heldentat, kann er vielleicht in den kommenden Wochen wieder zu alter Form zurückfinden. Denn bei aller berechtigten Euphorie, die über die Leistung des Deutschen jetzt herrscht darf man eines nicht vergessen: das was Kaymer gestern geleistet hat, war nur durch eine Konstellation günstiger Umstände möglich, die so wahrscheinlich waren wie ein Sechser im Lotto.
Das Worst Case Scenario für Kaymer wäre dabei wohl gewesen wenn sich ein Amerikaner verletzt hätte. Seit 1979, dem Jahr in dem alle nominierten Spieler zu den Einzeln antreten müssen, gibt es zwei geheimnisvolle Umschläge. In ihnen verschließen die Kapitäne der jeweiligen Mannschaften zeitgleich zur Auslosung der Einzel den Namen eines ihrer Spielers, der für den Fall einer Verletzung in der gegnerischen Mannschaft aussetzen muss. Gleich im ersten Jahr kam er zum Einsatz als Mark James zurückziehen musste. U.S.-Kapitän Billy Jacobs, mit dem neuen Prozedere überfordert, hatte versehentlich den Namen seines besten Spielers Lee Trevino in den Umschlag getan und bekam einen Mulligan. 1991 musste dann David Gilford aussetzen als sich Steve Pate bei einem Autounfall verletzte, zwei Jahre später stoppte ein entzündeter Zehennagel Sam Torrance und Lanny Wadkins ließ sich freiwillig in den Umschlag stecken. In den anderen Jahren kam der Umschlag nie zum Einsatz und die darin verschlossenen Namen blieben ein Geheimnis.
Doch realistisch betrachtet gab es zur drei Namen, die Olazábal in den Umschlag hätte packen können: Peter Hanson und Martin Kaymer, die so niedrig in seiner Gunst waren, dass er sie nur einmal in den Vierern einsetzte sowie Lee Westwood, der in den Vierern drei Mal enttäuschte. Doch gerade weil er so lange an Westwood fest hielt, fällt es schwer zu glauben, dass Olazábal ausgerechnet ihn rausgenommen hätte. Und während Kaymer kein Birdie im Fourball erzielte spielte Hanson immerhin zwei. Es braucht also nicht viel Fantasie, um zu behaupten bei einer Verletzung eines Amerikaners hätte der Deutsche die ultimative Schmach erdulden und die Einzel als Zuschauer verbringen müssen. Das war der erste Kelch, der an ihm vorüber ging. Die elf weiteren kamen mit der Aufstellung.
Da Olazábal nur noch eine einzige Chance hatte, nämlich so schnell wie möglich so viele europäische Punkte wie möglich auf das Leaderboard zu bekommen um den amerikanischen Spielern und vor allen Dingen dem rowdyhaften amerikanischen Publikum die Energie zu entziehen, legte er die Aufstellung in der Spitze stark an mit Donald, Poulter, McIlroy und Rose (und Francesco Molinari als Sicherheitsnetz am Ende). Love III hatte dies erwartet und versuchte mit der gleichen Taktik zu kontern, wodurch er den Kardinalsfehler beging gleich starke Paarungen zu kreieren, statt seine Stars und die schwächer aufgelegten Spieler im Wechsel aufzustellen und so den Amerikanern in einzelnen Matches große Vorteile zu verschaffen.
Als Olazábals Mannen in den ersten fünf Partien die Oberhand behielten, hatten die Amerikaner abgesehen von Jason Dufner und dem als Anker eingesetzten Tiger Woods ihr Pulver verschossen und das Momentum an Europa abgegeben. Sie trudelten in eine solche Abwärtsspirale, dass plötzlich die Partie von Martin Kaymer überhaupt erst Bedeutung erhielt – ein Umstand mit dem vermutlich nicht einmal der Deutsche gerechnet hatte.
Hinzu kam, dass die oben beschriebenen Gedankenspiele der Kapitäne Martin Kaymer mit Steve Stricker ausgerechnet einen wirklich machbaren Gegner bescherten. In drei Matches an der Seite von Tiger Woods hatte Stricker nicht einen Punkt gemacht. Konnte man dies im Foursome noch komplett auf den wild um sich schwingenden Woods schieben, zeigte Stricker in den Fourballs vor allen Dingen am Ende der Matches ungewohnte Schwächen und Nerven. Man würde den vier Spielern am Ende – Stricker, Kaymer, Woods und Molinari – aufgrund ihrer Klasse Unrecht tun wenn man es als Duelle der Einäugigen gegen die Blinden beschreiben würde, aber verglichen mit dem was die davor gestarteten Spieler abgezogen hatten, wirkte es fast so. Das zeigt auch ein Blick auf die Einzel-Ergebnisse wenn sie im Zählspiel ausgetragen worden wären.
- Paul Lawrie (-6 nach 15)
- Justin Rose (-6)
- Rory McIlroy (-5)
- Jason Dufner (-4)
- Luke Donald (-4 nach 17)
- Phil Mickelson (-3)
- Lee Westwood (-3 nach 16)
- Ian Poulter (-2)
- Keegan Bradley (-2)
- Sergio Garcia (-2)
- Bubba Watson (-2 nach 17)
- Dustin Johnson (-2 nach 16)
- Jim Furyk (-1)
- Peter Hanson (-1)
- Webb Simpson (Even)
- Zach Johnson (Even nach 17)
- Matt Kuchar (Even nach 16)
- Brandt Snedeker (Even nach 15)
- Tiger Woods(+1)
- Martin Kaymer (+1)
- Francesco Molinari (+1)
- Steve Stricker (+1)
- Nicolas Colsaerts (+1 nach 16)
- Graeme McDowell (+2 nach 17)
Doch glücklicherweise sind Zähl- und Matchspiel zwei komplett verschiedene Disziplinen – oder um es frei nach der abgedroschenen Phrase von Fussballreportern zu sagen: “Der Pokal hat eigene Gesetze”. Im Matchplay reicht es eben auch der zweitschlechteste zu sein wenn man das Glück hat gegen den schlechtesten anzutreten, oder man kann die Runde seines Lebens spielen und trotzdem verlieren. Deshalb ist es auch blauäugig einzelne Spieler bei Ryder Cups nur wegen ihrer individuellen Punktebilanz in den Himmel zu heben oder zu verdammen. Das beste Beispiel dafür ist Francesco Molinari. Bereits beim Ryder Cup 2010 musste er im Einzel gegen einen übermenschlich auftrumpfenden Tiger Woods ran, spielte grandioses Golf und wurde als großer Verlierer abgestempelt weil er hoch verlor. Dieses Jahr teilte er mit einer ganz schwachen Leistung gegen einen ebenso schwachen Woods und erhält dafür Applaus. Um einmal zu illustrieren wie zufällig das Ganze ist, habe ich einmal für Martin Kaymer ein virtuelles Matchplay gegen die anderen elf Amerikaner durchgeführt. Es ist zwar nicht ganz realistisch, da Matchplay nun mal auch von der direkten Reaktion auf das Spiel des Gegners lebt, aber die Schläge muss man dennoch erst einmal ausführen und der Vergleich ist daher nicht völlig aus der Luft gegriffen.
- vs. Bubba Watson Kaymer verliert 2&1
- vs. Webb Simpson All Square
- vs. Keegan Bradley Kaymer verliert 2&1
- vs. Phil Mickelson Kaymer verliert 2&1
- vs. Brandt Snedeker 1down nach 15
- vs. Dustin Johnson Kaymer verliert 3&2
- vs. Zach Johnson 1down nach 17
- vs. Jim Furyk Kaymer verliert 4&3
- vs. Jason Dufner Kaymer verliert 1down
- vs. Matt Kuchar 2down nach 16
- vs. Tiger Woods Kaymer gewinnt 1up*
Von den zwölf potenziellen Match Plays hätte Martin Kaymer also nur zwei gewonnen, eben gegen Steve Stricker und gegen Tiger Woods – wobei dessen Bogey am letzten Loch aufgrund der unkontrollierten Atmosphöre und der verloren gegangenen Anspannung unter normalen Umständen wohl kaum zu Stande gekommen wäre. Dies soll keineswegs die Leistung von Kaymer schmälern – die Putts, die er nicht nur auf der 18 sondern auch zuvor schon auf der 16 und 17 lochte waren allesamt Weltklasse und sprechen Bände über die Qualität der Nerven des Deutschen. Es hilft nur, auch im Moment des größten Erfolges einen Blick für die Realität zu behalten. Martin Kaymer war gestern der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Was er aus dieser glücklichen Fügung des Schicksals macht, werden wir sehen. Ob er aus diesem Ryder Cup so viel Selbstbewusstsein zieht, dass er in den kommenden Wochen und Monaten einen ähnlichen Lauf hinlegt wie nach seinem Major-Sieg 2010 oder ob es nur ein Strohfeuer ist, wird vielleicht schon die Dunhill Links Championship zeigen. Das Ende der European-Tour-Saison wird aus deutscher Sicht auf jeden Fall spannend.