Als ich gestern auf den Beginn meiner Golfstunde wartete, stand neben mir eine ältere Dame. Nachdem sie einige Bälle mehr schlecht als Recht bis zur 100-Meter-Marke geschlagen hatte, fragte der Pro, ob sie sich denn auch Golf im Fernsehen anschaut. “Ja”, antwortete sie. “Aber mit dem Kaymer ist nichts mehr los. Der hat ja schon wieder den Cut verpasst”. Wenn man sich so durch die diversen Golf-Foren klickt, scheint dieser Blick auf die Kaymer-Krise einhellige Meinung in Deutschland zu sein. Nun gehöre ich nicht gerade zu der Fraktion, die Menschen das Recht an Kritik abspricht, nur weil sie selber das Kritisierte schlechter können. Wer mit etwas sein Geld verdient, darf und muss sich mit anderen Maßstäben messen lassen. Und die Ergebnisse von Martin Kaymer geben nun mal genug Anlass zu Kritik.
Bei der Nedbank Challenge, die er 2012 noch gewann, belegte er nur Platz 16 von 30. Bei der Abu Dhabi Golf Championship, die er früher dominierte wie kein anderer, wurde er lediglich 31. Und beim nächsten Turnier im Nahen Osten schaffte er nicht mal eine Runde unter 70. Man sollte Martin Kaymer eigentlich raten, die Saison vorzeitig zu beenden und im nächsten Jahr einen neuen Versuch zu starten. Ach, Moment. Entschuldigung. Da bin ich doch glatt in der Zeile verrutscht. Das eben waren Martin Kaymers Ergebnisse in 2014, wo er bis zum Masters diese grandiose Bilanz aufzuweisen hatte:
- 16. bei der Nedbank Challenge (8.12.2013)
- 31. bei der Abu Dhabi Golf Championship (19.1.2014)
- 57. beim Qatar Masters (25.1.2014)
- 53. bei der Phoenix Open (2.2.2014)
- Erstrundenaus im Matchplay (23.2.2014)
- Verpasster Cut bei der Honda Classic (2.3.2014)
- 58. bei der Cadillac Championship (9.3.2014)
- Verpasster Cut bei der Houston Open (6.4.2014)
Einen Monat später gewann Kaymer die Players Championship, zwei Monate später sein zweites Major. Nun werde ich mich nicht hinstellen und behaupten, dass er in diesem Jahr ähnliches erreicht. Aber man muss schlicht und einfach feststellen, dass es noch viel zu früh ist, um die Saison von Kaymer oder gar seine gesamte Karriere abzuschreiben, wie es manche bereits tun.
Das Hauptproblem dürfte dabei eine überzogene Erwartungshaltung sein. Für die meisten ist Martin Kaymer bis heute immer noch der Weltranglisten-Erste. Und irgendwie glauben viele automatisch, dass er dadurch jahrzehntelang alles in Grund und Boden spielen muss, wie es Tiger Woods tat oder es im Tennis Roger Federer, Rafael Nadal oder Novak Djokovic tun. Doch Golf ist nicht Tennis. Die Fluktuation ist viel höher. Das bewies in dieser Woche auch Jordan Spieth, der als Weltranglistenersten sang- und klanglos in Riviera den Cut verpasste. Es wäre für alle Beteiligten gesünder, wenn man nicht Kaymers derzeitige Form als Anomalie betrachtet, sondern vielleicht seine Zeit als Nummer 1 der Welt.
Sowohl Kaymer als auch Luke Donald und Lee Westwood kamen an die Spitze der Weltrangliste in einer Zeit des Vakuums. Tiger Woods war verletzt und hatte eine Formkrise, und Rory McIlroy war noch nicht ganz bereit, den Staffelstab zu übernehmen. Als Martin Kaymer an die Spitze kam, hatte er 8.36 Durchschnittspunkte im Official World Golf Ranking – der beste Wert seiner Karriere. Diese Punktzahl würde heute gerade einmal für den vierten Platz in der Weltrangliste reichen – ganz knapp vor Rickie Fowler und näher am Neunten Patrick Reed als am Weltranglistenersten Jordan Spieth.
Wie sehr sich die Golfwelt in den letzten fünf Jahren verändert hat, erkennt man am Besten, wenn man die Weltrangliste von damals mit der heutigen vergleicht. So sah es im März 2011 aus:
- Martin Kaymer
- Lee Westwood
- Luke Donald
- Graeme McDowell
- Tiger Woods
- Phil Mickelson
- Paul Casey
- Rory McIlroy
- Matt Kuchar
- Steve Stricker
Und so sind die damaligen Top 10 heute in der Weltrangliste platziert:
- 3. Rory McIlroy
- 20. Phil Mickelson
- 27. Matt Kuchar
- 28. Paul Casey
- 36. Martin Kaymer
- 54. Lee Westwood
- 72. Graeme McDowell
- 87. Luke Donald
- 282. Steve Stricker
- 444. Tiger Woods
Tatsächlich sind Rory McIlroy und Dustin Johnson die einzigen Spieler der Welt, die sich die gesamte Zeit in den Top 25 gehalten haben. Phil Mickelson war zwischenzeitig auf Platz 39, Martin Kaymer fand sich 2014 auf Platz 63 wieder und Paul Casey musste sich von Platz 169 zurückkämpfen. Schaut man sich an, wo einstige Nr.1-Spieler fünf Jahre nach der Eroberung der Weltranglistenführung im OWGR platziert waren, kann man feststellen, dass sich Kaymer in guter Gesellschaft befindet. Zwischen der Umstellung der Weltrangliste auf einen Zweijahresmodus (1996) und Kaymers Führung, die sich diese Woche zum fünften Mal jährt, gab es sieben Weltranglisten-Erste. Und so war ihre Platzierung fünf Jahre danach:
- 1. Tiger Woods
- 3. Ernie Els
- 14. Vijay Singh
- 35. Tom Lehman
- 38. Martin Kaymer
- 48. Lee Westwood
- 307. David Duval
Bedenkt man, dass Ende Mai der fünfte Jahrestag von Luke Donald ansteht und der Engländer aktuell 87. der Welt ist (mit fallender Tendenz), befindet sich Martin Kaymer absolut im Mittelfeld dieser Karriereentwicklung. Natürlich macht dies die aktuellen Ergebnisse nicht besser, es gibt aber eine gute Einordnung. Hinzu kommt, dass die heutige ADHS-Gesellschaft dazu neigt, den Eindruck der letzten Zeit überzubewerten. Ja, Kaymer hat 2015 kein Turnier gewonnen. Aber war die Saison aber wirklich so schlecht wie man denkt? Keineswegs. Denn nur 48 Spieler haben 2015 mehr Weltranglistenpunkte erspielt als Kaymer. Und zumindest die Statistiken auf der European Tour waren überraschend gut: Der Schlagdurchschnitt von 70,38 war der Beste seit 2011, noch nie zuvor traf er so viele Grüns und die Putts pro Green in Regulation waren im Normalbereich.
Das lässt sich für 2016 nicht sagen. Hier sind die Statistiken tatsächlich desaströs: Sowohl beim Schlagdurchschnitt als auch bei der Drivegenauigkeit und den getroffenen Grüns hat Kaymer die schlechtesten Werte seiner Karriere. Nur sollte man nicht vergessen, dass diese Werte auf gerade einmal acht Runden und fünf Wochen beruhen. Nur mal zur Einordnung: Jordan Spieth verpasste 2015 bei den ersten beiden FedEx-Playoffs den Cut und Jason Day hatte sieben Wochen lang kein Top-50-Resultat. Ein so kurzer Zeitraum ist einfach nicht genug, um schon den Stab über irgendeinen Spieler zu brechen – ganz besonders nach der Winterpause. Mit Matthew Fitzpatrick, Daniel Berger und Justin Thomas haben gleich drei Breakout-Stars des letzten Jahres einen desaströsen Saisonstart hingelegt. Doch was ist wohl repräsentativer für die Zukunft? Das letzte Jahr oder die letzten vier Wochen?
Deshalb sollte man auch vorsichtig damit sein, schon jetzt im Februar Martin Kaymer abzuschreiben. Natürlich muss man seine Ansprüche auf ein realistisches Maß bringen. Wer erwartet, dass Kaymer wieder Weltranglisten-Erster wird, kann sich schon jetzt auf eine Enttäuschung einstellen. Dies wird nicht passieren, denn die neue Generation hat dafür gesorgt, dass die Messlatte deutlich höher als 2011 liegt. Doch selbst der aktuelle Martin Kaymer, der in Malaysia vier Schläge hinter dem 1730. der Weltrangliste lag, hat 2016 in einer guten Woche das Potenzial Turniere, ja sogar Majors, zu gewinnen. Und das können nur sehr wenige Golfer – ganz besonders in Deutschland – von sich behaupten.